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Institut für Erziehungswissenschaft

Fallsammlung des Lehrens und Lernens

Gemeinschaftsprojekt mit der Leibniz Universität Hannover

Angehende Lehrerinnen beschreiben als wesentliche Komponenten von Unterricht vielfältige Aspekte: Lehrerverhalten und -persönlichkeit, fachliche, fachdidaktische und pädagogische Fähigkeiten sowie die methodische Gestaltung. Nur die Lerner, die eigentlichen Hauptpersonen des Unterrichts kommen nicht oder nur am Rande in den Blick. Die Studierenden bleiben bei einer Perspektive von Unterricht, wie sie ihn selbst erlebt haben: mit der Lehrperson als Hauptakteur. Dies wird dadurch begünstigt, dass die Identitätsbildung hin zur Lehrerpersönlichkeit kaum einschneidende Erlebnisse bereit hält, die das lebensweltliche Bild des Lehrens und Lernens erschüttern und verändern könnten.

Vor dem Hintergrund der mittlerweile anerkannten Theorien zur Erkenntnisgewinnung und ihrer Bedeutung für das Lernen wird die Bedeutung einer solchen Beobachtung deutlich: Der gemäßigte Konstruktivismus und empirische Forschung (Hattie 2010) betonen, dass die wichtigsten Bedingungen für Lernprozesse auf Seiten der Lerner liegen. Sie konstruieren ihre Gedankengebäude eigenständig und nur sie können sie umbauen, erweitern oder mit anderen verknüpfen (Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001). Diese theoretischen Annahmen werden auch durch neurobiologische Befunde gestützt (Roth 2003). Die jahrzehntelang vorherrschende Vorstellung von Lernen als passiver Rezeption wird aufgegeben und damit auch ein gravierendes Umdenken in Bezug auf die Gestaltung von Unterricht notwendig.

Die Lehrerrolle wandelt sich vom Beibringen und Belehren hin zu einem Begleiten und Unterstützen: Die Lehrperson macht Lernangebote, eröffnet Lernchancen und moderiert Lernprozesse der aktiven Lerner. Primär ist dabei der Blick auf die Lerner; wichtig werden die Diagnose von Lernpotentialen und Kenntnisse darüber, wie Verstehensprozesse davon ausgehend angestoßen werden können. Grundlegend dafür sind Studien zu Schülervorstellungen (Gropengießer 2001; Dannemann 2009; Niebert 2010), die prominente Denkgebäude von Lernern für verschiedene Themen beschreiben und daraus Leitlinien für die Schulpraxis entwickeln. Ein wesentlicher Bestandteil der Unterrichtsgestaltung ist die In-Beziehung-Setzung der Schülervorstellungen und Lernpotentiale mit den fachlich angemessenen Konzepten und Kompetenzen. Dieser Vergleich kann Ausgangspunkte aber auch Lernhindernisse und damit mögliche Lernwege aufzeigen. Einen methodischen Rahmen zur Bewältigung dieser Aufgabe bietet die Didaktische Rekonstruktion (Gropengießer & Kattmann 2009).

In einer Querschnittsstudie (Schmelzing et al. 2010) wurde untersucht, inwieweit sich das fachdidaktische Wissen und die Reflexionsfähigkeit von Lehramtsstudierenden, Referendaren und erfahrenen Lehrkräften unterscheiden. U.a. sollten Unterrichtssituationen, in denen Schülervorstellungen Verstehensschwierigkeiten bedingen, analysiert und beurteilt werden. Dabei zeigt sich, dass die Diagnosekompetenz von Lernpotentialen bei Studierenden gering ausgeprägt ist und erst mit steigender Berufserfahrung signifikant zunimmt. Allerdings sinkt die Fähigkeit, die Schwierigkeiten fachdidaktisch angemessen zu explizieren von einem Höchstwert bei den Referendaren mit steigender Unterrichtsroutine der Lehrkräfte wieder ab. Hier zeigt sich, dass es notwendig ist, die Verknüpfung von Theorie und Praxis auch in Fortbildungen für erfahrene Lehrkräfte zu thematisieren.

Offensichtlich gelingt es bisher bei der Ausbildung von Lehrpersonen nur unzureichend, Erfahrungen zu stiften, in denen Perspektivwechsel von der Lehrerperspektive hin zur Lernerperspektive angeregt werden. Um Unterricht sowie Verstehensprozesse konsequent aus der Schülerperspektive zu betrachten, fehlen Interventionen, die den Studierenden Erfahrungen ermöglichen und sie anregen, ihre Erlebnisse aus der Schulzeit in Frage zu stellen und damit ihre Perspektive auf Unterricht zu verändern. Dieser Perspektivwechsel hin zur Betrachtung des Lehr-Lernprozesses aus der Schülerperspektive konnte von uns dann beobachtet werden, wenn sich Studierende empirisch forschend, intensiv mit individuellen Lernprozessen beschäftigen. Die dabei entdeckte Diskrepanz zwischen den intendierten und den erreichten Lernergebnissen hat das Potential, die Wahrnehmung des Unterrichts in Richtung auf ein professionelles Verständnis zu verändern.

Eine Möglichkeit solche Erfahrungssituationen für Studierende in Seminaren zugänglich zu machen, sind Videovignetten, die exemplarische Unterrichtssituationen zeigen. Diese Situationen werden so ausgewählt, dass relevante fachliche Verstehensprobleme der Lerner darin prototypisch deutlich werden. Gruber (1999, 2006) zeigte am Beispiel der Expertiseforschung, dass Erfahrungslernen und der Erwerb von Handlungskompetenz insbesondere über die Reflexion von Fehlern und die Kategorisierung und Indizierung von Fallsituationen stattfindet.
In diesem Projekt werden kurze, bis zu fünf Minuten dauernde Schlüsselszenen von Unterrichtssituationen videographiert, die als Fallbeispiele dienen können. Diese sollen gemeinsam mit Studierenden im Fachpraktikum und im Seminar zur Forschungsmethodik entwickelt werden. Für die Gestaltung der Unterrichtssituationen wird auf Vorarbeiten im Rahmen der Didaktischen Rekonstruktion zurückgegriffen, die Schülervorstellungen erheben, analysieren und Vorschläge für die Vermittlung machen. In Vermittlungsversuchen (teaching experiments) sollen die Vorstellungsentwicklungen in kleinen Lerngruppen mit zwei bis drei Lernern deutlich werden. Dabei wird die Einwilligung aller Beteiligten nach erfolgter Aufklärung streng beachtet. Die erstellten Videos können dann von den Studierenden mit Hilfe der Qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet (Mayring 2003; Gropengießer 2005) und reflektiert werden. Sie bilden die Grundlage für die Videovignetten zum Erstellen einer Fallsammlung zum Lernen der Biologie.

Damit ergeben sich zwei Phasen des Projektes: Eine Entwicklungsphase, in der die zu videographierenden Vermittlungsversuche entwickelt, durchgeführt und videographiert werden und eine Forschungsphase, in der sie ausgewertet und evaluiert werden.
Die videographierte Fallsammlung zum Lernen der Biologie kann in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung zur Förderung der Diagnosekompetenz und zur Reflexion und Diskussion über die Gestaltung von Lernchancen in der Schulpraxis eingesetzt werden. Entscheidend ist, dass angehende Lehrende die Schülerperspektive einnehmen müssen, um zu verstehen, womit die Lerner im Fallbeispiel Lernschwierigkeiten haben. So kann – angelehnt an den Conceptual Chance-Ansatz – ein konstruktives Umlernen ihrer bisherigen Betrachtungsweise von Lehr-Lernprozessen initiiert werden (Strike & Posner 1992). Anschließend können die Studierenden selbst Ideen entwickeln, was angemessene Lernmöglichkeiten für die Lerner sein könnten. Damit kann – über die Planungs- und Gestaltungsfähigkeiten von Unterricht hinaus – die Reflexionskompetenz der Studierenden, im Rahmen von Fortbildungen aber auch die der erfahrenen Lehrkräfte, gefördert werden.