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Institut für Erziehungswissenschaft

Sozio-emotionaler Missbrauch Jugendlicher

Dauer: 2011-01 to 2022-01

Aus dem Kontext totalitärer Systeme ist der sozio-emotionale Missbrauch Jugendlicher dokumentiert: Im Dienste eines politischen Systems oder einer politischen Ideologie werden Jugendliche als Informanten oder Intriganten gegen Personen aus ihrem sozialen Umfeld genutzt. Dies wird möglich, indem soziale, emotionale oder wirtschaftliche Abhängigkeiten dieser Jugendlichen genutzt oder gezielt hergestellt werden, die möglicherweise dazu beitragen, dass ihre Loyalität primär den Vertretern des Staates gilt und nicht mehr der Familie, Freund/inn/en oder anderen Personen aus ihrem Bekanntenkreis. Jugendliche werden dabei gleichermaßen zu Tätern, die Personen aus ihrem persönlichen Umfeld schaden, und zu Opfern, die unter dieser Situation leiden. So kann angenommen werden, dass dieser Missbrauch mit erheblichen Belastungen für die persönlichen Beziehungen der Betroffenen verbunden ist, dessen Konsequenzen weitreichend sein können.

Es ist davon auszugehen, dass sich ähnliche Muster sozio-emotionalen Missbrauchs auch in weniger spektakulären Kontexten etablieren können, z. B. in der Familie oder in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen – und zwar z. B. dann, wenn Jugendlichen von für sie bedeutsamen Erwachsenen eine vermeintlich herausgehobene „Vertrauensstellung“ dafür angeboten wird, dass sie Informationen über andere liefern oder im Interesse dieser bedeutsamen Erwachsenen aktiv werden. In Hinblick auf diese Muster sozio-emotionalen Missbrauchs stellen sich verschiedene Fragen, die im Kontext eines Forschungsvorhabens geklärt werden sollen.

  1. Welche Bedingungen ermöglichen oder begünstigen den sozio-emotionalen Missbrauch Jugendlicher?
  2. Durch welche Formen und Verläufe ist sozio-emotionaler Missbrauch Jugendlicher gekennzeichnet?
  3. Mit welchen Konsequenzen ist sozio-emotionaler Missbrauch für die betroffenen Jugendlichen – auch in späteren Lebensabschnitten – verbunden?

In einer ersten Phase sollen diese Forschungsfragen zunächst anhand solcher Fälle untersucht werden, in denen besonders gravierende Formen sozio-emotionalen Missbrauchs Jugendlicher durch ein totalitäres Regime erfolgten. Gedacht ist dabei an Menschen, die vor Erreichen der Volljährigkeit als Informelle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR tätig waren. In einer zweiten Phase sollen solche Fälle einbezogen und analysiert werden, in denen sozio-emotionaler Missbrauch in aktuellen Kontexten erfolgt, d. h. in Kontexten, in denen sozio-emotionaler Missbrauch weniger spektakulär, aber möglicherweise nicht weniger gravierend erfolgt. Im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung, die sowohl die jeweiligen Besonderheiten wie auch die Gemeinsamkeiten zwischen den jeweiligen Kontexten berücksichtigt, wird eine vertiefte Analyse der Bedingungen, Ausprägungen, Verläufe und Konsequenzen sozio-emotionalen Missbrauchs angestrebt.

Theoretisch soll im Rahmen dieses Forschungsvorhabens an Konzepten der Autoritarismusforschung, an der Bindungsforschung und an der Adoleszenzforschung angeknüpft werden. Auf diese Weise können u. a. Erkenntnisse zu frühen Erfahrungen in wichtigen sozialen Beziehungen, zu Dynamiken der Entwicklung und der Verschiebung von Aggression sowie zu adoleszenten Ablösungsprozessen in Hinblick auf Phänomene sozio-emotionalen Missbrauchs fruchtbar gemacht werden. Empirisch wird das Projekt im Rahmen eines qualitativen Designs umgesetzt. Da in erster Linie die subjektiven Perspektiven und Erfahrungen der betroffenen (ehemals) Jugendlichen erschlossen und rekonstruiert werden sollen, wird sich das Projekt vor allem auf biografische und themenzentrierte Interviews stützen. Ergänzend sollen Experteninterviews geführt und nach Möglichkeit auch Dokumente (z. B. Tagebücher) ausgewertet werden.

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